Blick ins akustische Spiegelkabinett

Boris Hauf: Rhizomorphe Biotope der Fantasie

„What sounds, sounds“ (Duke Ellington). So einfach ist das. Drei Worte, mit denen im Grunde alles gesagt ist; gänzlich alles. Warum unternimmt man dennoch immer wieder diesen Versuch, noch weiter in die Tiefe zu gehen? Liegt es an der Sucht des Wortes, endlich einen befriedigenden Weg zu finden, um an die Magie des Klanges heran zu kommen? Dann allerdings scheint die Lust am Scheitern die treibende Kraft zu sein. Denn auf semantischer Ebene einer Kunstsparte zu begegnen, die per se keiner Worte bedarf ist bekanntlich eine so offensichtliche contradictio in adjecto, dass man dieser Situation bereits wieder gänzlich andere, – sprich reizvolle – Seiten abgewinnen kann. Und da jeder Reiz dem Lustprinzip folgt, verführt dies zur Wiederholungstat. In diesem Sinne: Warum nicht einmal mehr die Qualität des Scheiterns auskosten; allerdings auf eine – so sei zu hoffen – lustvolle Art und Weise.

Deshalb sei zu Beginn ein Begriff ins (Denk)Spiel gebracht, den die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattarri prägten: Das Bild des Rhizoms. Ursprünglich dem Fachbereich der Botanik entlehnt, versteht man unter einem Rhizom „ein Wurzelsystem, das keine Hauptwurzel aufweist und ohne sichtbaren Anfang und Ende sowohl senkrecht als auch waagrecht zu wachsen vermag.“ Eine Qualität, die sich in bestimmten Knollengewächsen, aber auch im Myzel von Pilzen findet und Anfang der 80er Jahre die beiden Philosophen so faszinierte, dass sie diesen Begriff für ihre Ästhetik-Schriften adaptierten. Konkret war es dieses Bild des azentrisch orientierten Wachstumsverhaltens, das Deleuze und Guattarri als Erklärungsmodell diente, um gewisse Zusammenhänge zu beschreiben, die sich nicht auf regelmäßige Strukturen und Hierarchien zurückführen ließen.

In ihrem Werk „Tausend Plateaus“ heißt es: „Im Unterschied zu Bäumen oder ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen beliebigen Punkt. Rhizomorph sein bedeutet, Stränge und Fasern zu produzieren, die so aussehen wie Wurzeln oder sich vielmehr mit ihnen verbinden, indem sie in den Stamm eindringen, selbst auf die Gefahr hin, dass ein neuer, ungewöhnlicher Gebrauch von ihnen gemacht wird. Wir sind des Baumes überdrüssig geworden. Wir dürfen nicht mehr an Bäume, an große und kleine Wurzeln glauben. Wir haben zu sehr darunter gelitten. Die ganze baumförmige Kultur beruht auf ihnen. Von der Biologie bis hin zur Linguistik. Schön, politisch und liebevoll sind nur unterirdische Stränge und Luftwurzeln, der Wildwuchs und das Rhizom“.

Was wie ein Manifest an die Entfaltungsfreiheit klingt, darf auch so verstanden werden. Dass dieser Begriff sehr bald ebenfalls für musikästhetische Betrachtungen herangezogen wurde, war somit nur eine Frage der Zeit. Ganz speziell einer Strömung scheint das Rhizom auf den akustischen Leib geschneidert zu sein: Der seit Jahren mit ungeahnter Breitendimension wuchernden liveelektronischen Musikszene; der Notebook-Improvisatoren, die im Dialog mit dem Computer nachgerade sagenhaftes Klangmaterial hervorzaubern. Nahezu alle akustischen Wunschvorstellungen, die klingende Gestalt annehmen sollen, sind heute realisierbar. Und zwar nicht hinter abgeriegelten Tonstudio-Mauern, sondern live on stage. Dank der rasanten technischen Weiterentwicklung ist das Equipment der Notebook-Generation mobil und dementsprechend vielseitig einsetzbar. Sei es nun als Ergänzung zu haptischen Instrumentarien, oder „puristisch“ gedacht: Computer komponieren heutzutage fleißig mit; am Schreibtisch, in Proberäumen und in den renommiertesten Konzertsälen der Welt.

Trotz dieser digitalen Omnipräsenz wirkt das Bild des elektronisch gelenkten Live-Happenings allerdings immer noch befremdend; denn im Akt der Hinwendung zur Musik regiert kühl anmutende Distanz. Nahezu apathisch der Gesichtsausdruck der Live-Improvisatoren, die ihre Monitore keine Sekunde aus den Augen verlieren und mit sparsamen Tastatur-Befehlen das musikalische Geschehen steuern. Man hat das Gefühl, dass Klangentwicklung und gesetzte Handbewegungen in indirektem Verhältnis zu einander stehen. Das Ergebnis freilich macht Staunen und zählt zu den bahnbrechendsten Errungenschaften im Bereich der Neuen Musik.

Mag sein, dass es nicht zuletzt diese Diskrepanz zwischen actio et reactio ist, die den vielseitigen Musiker Boris Hauf immer mehr in den elektronischen Bereich eintauchen lässt. Hauf, der zweifelsohne zu den begnadetsten Saxophonisten des Landes zählt, und momentan abwechselnd in Chicago und Berlin lebt, hat mit „Soft Left Onto Westland“ sein nunmehr erstes, rein elektronisches Soloalbum veröffentlicht. Musik, die nur noch entfernt an jene Kompositionen erinnert, die Hauf für seine seit 1999 existierende Formation efzeg (Burkhard Stangl, Martin Siewert, Billy Roisz) konzipierte. Anstelle der Stimme des Saxophons treten elektronische Klangerinnerungen, die von Alltagsgeräuschen eingerahmt scheinen. Trocken gemixte Klangpartikel, die wie kühle Gestirne im akustischen All kreisen und indirekt von Haufs Aufenthalten in den USA „erzählen“. Konkret von Chicago, wo Boris Hauf seit Ende der 90er Jahre mindestens drei Monate des Jahres verbringt. „Chicago ist für mich wirklich ein Glücksfall. Speziell meine Zusammenarbeit mit der Formation Television Power Electric ist eine unglaubliche Bereicherung; wirklich ein Idealfall an musikalischer Offenheit. Das Spektrum ist so breit, dass es keinerlei Einschränkungen gibt.“ Denn: Für Boris Hauf macht es keinen Unterschied, welches Instrument er spielt, entscheidend ist einzig und allein das Resultat. „Die Elektronik ist für mich genauso ein Instrument wie ein Klavier oder Saxophon. Wichtig ist einzig und allein wie es klingt.“

Womit wir wieder bei Duke Ellington angelangt wären, und jenem Satz, den auch Hauf so gerne zitiert „What sounds, sounds.“ Punktum Schluss; keinerlei weitere Kommentare notwendig.

Wieder scheint es gescheitert, das Wort, das alles daran setzen wollte, um es dem organisierten Schall gleich zu tun; nämlich Gedanken in Schwingungen zu versetzen und mentale „beats“ zu erzeugen, die kaum einen Herzschlag von der Musik entfernt sind. Und in eben dieser aussichtslos wirkenden Situation taucht es wieder auf, das Rhizom – und man ist fast versucht zu sagen: Das gute, alte Rhizom. Denn es ist hartnäckig und beteuert seine Existenz durch die Berechtigung, die es immer wieder über die Schiene der Musik erfährt.

Theodor W. Adorno war es, der Franz Schrekers Klangideal als Musik beschrieb „die Luftwurzeln treibt“, die Ursprung und Konsequenz und „am liebsten auch jede eigentliche kompositorische Bestimmtheit“ verleugnet. Musik, die aus sich selbst heraus wuchert und immer neue Blüten treibt; die ähnlich wie das Bild des Rhizoms den Anschein erweckt, an jeder beliebigen Stelle unterbrochen oder zerrissen werden zu können, und dennoch die Kraft besitzt sich an eigenen oder fremden Linien fortzupflanzen.

Warum derlei rhizomorphe Gedanken just im Zusammenhang mit Boris Hauf ins Spiel gebracht werden? Weil der 1974 in Großbritannien geborene Kosmopolit weitaus stärker als viele seiner Kollegen die verbale Auseinandersetzung mit seinen Kompositionen verweigert. Sätze wie „ob jemand ein Instrument spielen kann oder nicht ist unwichtig, ebenso ob es Töne oder Geräusche sind, die dabei herauskommen. Wenn es gute Musik ist, ist es gute Musik“ sind keine Seltenheit und wecken die Erinnerung an ein Zitat von Edgard Varèse: „Ich wurde eine Art teuflischer Parsifal, nicht auf der Suche nach dem heiligen Gral, sondern nach der Bombe, die das musikalische Universum sprengen könnte, um alle Klänge durch die Trümmer hereinzulassen, die man – bis heute – Geräusche genannt hat.“ Dieses Formen aus dem scheinbaren Nichts, diese Integration des lange Zeit unterschätzen „Anti-Tons“ wurde zum Urknall für Varèses Musikvorstellung und scheint auch für die heutige Notebook-Generation ein kompatibler Ansatz.

Dank digitaler Techniken ist es möglich, den Klang bis in seinen so genannten Granularbereich zu zerlegen und bis zum Klanggespinst auszudünnen. Oder umgekehrt jene Frequenzbereiche anzusteuern, die früher Lautsprecher zum Bersten gebracht hätten. Fast alles, was denkbar ist scheint möglich. Und da – nach Claude Lévi-Strauss – „das wilde Denken seinem Wesen nach zeitlos ist“ – gewinnt man bisweilen den Eindruck, dass speziell die Elektronik-Szene die raum-zeitliche Kausalität zu sprengen versucht. Klangpartikel werden wie Objekte im Raum bewegt, überlagern einander oder reihen sich zu Linien oder Kurven. Und da bei Live-Events auch die Reflexion der Schallwellen an räumlichen Parametern mitberücksichtigt wird, mutiert das Publikum ebenfalls zu einer Art Blitzableiter des Klanges. Nicht zuletzt diese akustische Dynamik evoziert beim Zuhörer mitunter das Gefühl, dass es sich um eine Art negative Klang-Geschwindigkeit handelt; dass Signale bereits im Ohr ankommen, ehe sie überhaupt ausgesandt wurden. Dieser Mix aus Technik und Magie reizt die Sinne und koppelt die Wahrnehmung an eine Art dreidimensionales Denken. Ein Phänomen, das auch auf Boris Haufs Soloalbum „Soft Left Onto Westland“ zur Geltung kommt. In diesem Fall sind es die ins akustische Gewebe geflochtenen Umweltgeräusche, die der musikalischen Textur eine Form von Mehrdimensionalität verleihen.
Durch und durch plastisch sind auch die Klänge, die Hauf nach wie vor am Saxophon produziert. Sei es mit seiner Formation efzeg, dem Hauf-Quartett oder jener Band in Berlin, mit der „Britney Spears-Covers“ eingespielt werden: Die musikalische Bewegungsfreiheit scheint grenzenlos. „Da bin ich gnadenlos. Ich mache alles, was mir Spaß macht. Ich kann heute Motetten von Orlando Di Lasso spielen und morgen Enimen-Covers. Alles hat seinen Reiz und dieselbe Ernsthaftigkeit in der Vorbereitung.“

An dieser Stelle noch ein Wort zum musikalischen Werdegang: Sein Saxophonstudium absolvierte Boris Hauf bei Adelhard Roidinger am Brucknerkonservatorium Linz. Parallel dazu nahm Hauf Querflötenunterricht bei Katrina Emtage und besuchte Meisterkurse bei Marc Grauwels. An sein kurzfristiges Cello-Intermezzo am Konservatorium Wien erinnert nur noch sein gleichnamiger, mittlerweile sehr betagter Hund. Dass sich der vielseitige Musiker aber ganz speziell in der Formation Bass (Achim Tang), Schlagzeug (Lukas Knöfler) und Saxophon (Boris Hauf) wohlfĂĽhlt, war zuletzt im Rahmen des GrabenFestes 2004 spĂĽrbar. Unter dem Motto „3 Farben: Weiss“ hisste niemand geringerer als Dichter-Ikone Ruth Weiss die Festival-Fahne des Friedens. Jene 1928 in Berlin geborene und 1938 nach Amerika emigrieren mĂĽssende „Goddess of the Beat Generation“, die als Erfinderin der Jazz-Poetry gilt und von ihrem Kollegen Jack Hirschman so trefflich charakterisiert wurde: „Andere lesen zu Jazz und schreiben ĂĽber Jazz. Ruth Weiss macht Jazz in Worten“. Konkret war es das Gedicht „White is all Colors“, das Ruth Weiss fĂĽr das GrabenFest „komponierte“ und live skandierte. Die Stimme als Instrument, Sprechen als Klangphänomen begriffen; in Kombination mit dem Trio Hauf/Tang/Köfler irritierend wie der Blick in ein akustisches Spiegelkabinett. Hier die Worte, die der Musik ihren Geist schenken; dort die indirekte Mitteilsamkeit instrumentaler Klänge. Eine Art Verdoppelung der musikalischen Wirklichkeit, die wieder an jenen Punkt fĂĽhrt, wo das (geschriebene) Wort gefordert wird, das sich – einmal mehr – mit aller Kraft nach den Sphären der Musik zu strecken scheint. Oder wie Friedrich Nietzsche in seiner polemisch pointierten Abhandlung „Die fröhliche Wissenschaft“ es bezeichnete: „Was eigentlich Musik an der Musik ist, ist nicht in ihren physikalischen Bedingungen oder in ihren rationalisierbaren mathematischen Proportionen begrĂĽndet. Je weiter man sich der Musik rational oder emotional nähert, sie entwischt einem im gleichen Moment und gibt an anderer Stelle Rätsel auf“.

Über Musik zu schreiben kommt somit dem Versuch gleich Halt zu finden, an der Stimme des Windtons, an der Magie einer flüchtigen und zugleich in sich autarken Welt. So betrachtet ist es ganz wunderbar, das bereits eingangs angekündigte Scheitern der Sprache an der Musik. „What sounds, sounds“. Kein Widerspruch mehr, denn: Das letzte Wort behält die Musik.

28. April 2005, Cafe Weimar, 1090 Wien
Christine Dobretsberger